2012/11/04

Kino: Oh Boy...


Ist schon komisch, manchmal braucht man das Kino, um die Welt vor einem zu sehen. Und dann lassen sich auch augenblicklich Parallelitäten erkennen zu Begebenheiten, die manchmal gar nicht so lange her sind. Es tut mir sehr leid, dass der neben uns sitzende Herr sich durch die wohl etwas raschelnden Chipstüten während des Vorprogramms (!!!) gestört fühlte, uns als asozial bezeichnete und sich dann weg setzte. Die Frage, ob wir auch in der Oper Chips essen würden, hatte aber wirklich etwas von Comedy und hoffentlich hat er sich an der richtigen Stelle des Films dann wiedergefunden. (Wobei er sich aber wahrscheinlich nicht erkannt haben dürfte.) Mit 'Oh Boy' ist es Jan Ole Gerster gelungen einen kleinen Film zu schaffen, der sich nach 85 Minuten als ganz großes Kino zu erkennen gibt. Der Film will nichts sein, nichts vorgaukeln, und genau daraus schöpft er seine Kraft. 
Getragen wird die ganze Geschichte, die eigentlich aus vielen kleinen Geschichtchen besteht, durch Niko (Tom Schilling) und dessen durchaus für die Generation der in den frühen 80-er Jahren Geborenen stehende Unentschlossenheit. Einen Tag und eine Nacht lang nimmt Niko den Zuschauer mit, lässt sich treiben und wird getrieben. Ziellosigkeit, Unverbindlichkeit durch vorgegebene Geschäftigkeit und gleichzeitiges Untätigsein sind es, was die Episoden zusammenhält. Beim Zusammentreffen mit dem von Ulrich Noethen gespielten Vater wird auch klar woran Niko wirklich scheitert. In einem Elternhaus aufgewachsen bei dem der Erfolg der Eltern zum Masstab für die Kinder wird, ist Niko's Verhalten nicht mal mehr Protest, sondern eher eine Art Resignation.
Tom Schilling verleiht der Hauptfigur durch sein jungenhaftes Aussehen glaubhafte Jugendlichkeit. Doch irgendwie ist es auch langweilig Tom Schilling nur darauf zu reduzieren. Man kann in seinem Gesicht lesen, sieht was seine Figuren 'denken' und 'fühlen'. 'Oh Boy' bietet viele Momente, in denen einfach nur Stille herrscht und es nicht mehr braucht als das von Tom Schilling um seine Welt zu verstehen. 


Jan Ole Gerster hat drückt in schwarz-weißen Bildern nicht nur das Lebensgefühl einer Generation aus, sondern macht auch Berlin eine Liebeserklärung. Lange war die Stadt nicht mehr so schön eingefangen worden, im Kulturradio verglich man Gersters Art der Bildkomposition sogar mit Helmut Käutners 'Unter den Brücken'. Und so weit entfernt sind die beiden Filme gar nicht von einander. Käutners Bilder haben die selbe poetische Stille und den selben realistischen Blick. Es wird eine Melancholie gezeigt, die wahrscheinlich jegliche Farbe zunichte machen würde. Oft hatte ich tatsächlich das Gefühl in einem Bildband zu blättern, mir Fotografien von Meistern wie Brassai, Willy Ronis oder Cartier-Bresson anzuschauen. Bilder die Augenblicke von großstädtischem Leben einfangen und allein durch Licht und Schatten ganze Welten entstehen lassen. 
Vielleicht hätte ich mir auch genau deshalb gewünscht, dass der Film schon einige Minuten früher endet, nämlich dann, wenn Gerster menschenleere Straße und Plätze zeigt und Berlin nach einem Tag und einer Nacht mit Niko erwachen lässt. Es hätte keiner Auflösung bedurft, man muss nicht immer wissen wie etwas ausgeht. 
'Oh Boy' ist ganz sicher eines der großen Kino-Highlights in diesem Jahr und Jan Ole Gerster zeigt, dass sich mit einem Budget, mit dem bei vielen Filmen noch nicht einmal die Kostüme bezahlt werden könnten, 300.000 Euro hat der Film gekostet, ein Film zu machen ist, der Andere in ziemlich schwach aussehen lässt. Anschauen lohnt sich!!!