"Bei prosaischen Gelegenheiten setzte der Ring jedoch ein ganz anderes Gesicht auf. Wenn meine Mutter mich zum Einkaufen in die Innere Stadt mitnahm, überquerten wir die breite Allee recht hastig. Die große Weite, die aufgeblähten Silhouetten reduzierten uns zu Zwergen. Die monumentalen Gesten, die uns umgaben, beflügelten die Seele nicht; sie warfen einschüchternde Schatten." Frederic Morton, aufgewachsen und hineingewaschen in ein Wien zwischen Kaiserreich und Republik, beschreibt in einem seiner Essays, wie die Ringstraße immer Teil seiner Wienwahrnehmung war.
Die große Schneiße, die ab den 1860-er Jahren an Stelle der alten Stadtmauer geplant wurde und zu einem Prachtboulevard umgebaut wurde, trennte die Inneren Stadt mit ihren Gassen und Barockfassaden von den Wohnbezirken, die sich im Zuge zunehmender Industralisierung entwickelten und Wien zu einer Metropole werden liesen. Die Ringstrasse wurde zum Symbol der Gründerzeit, war Flaniermeile und Theaterbühne für die Gesellschaft der K.u.K.Monarchie; war eine Sonntagsstrasse für ein wachsendes, bürgerliches Selbstbewußtsein. Größer, schöner und für Riesen gemacht.
Kaiser Franz-Josef I. veranlasste 1857 die Stadtmauer zu schlefen und die Befestigungsgräben zuzuschütten. Das neue Areal wurde ausgeschrieben und in Parzellen auch an private Investoren verkauft um die geplanten Repräsentationsbauten, die heute zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten Wiens gehören zu finanzieren. Mitglieder des Kaiserhauses und der hoffähigen, adligen Familien sollte an der Ringstrasse Grundstücke erwerben um als Beispiel voranzugehen und den Baugrund auch für ein aufstrebendes Bürgertum interessant zu machen. Doch nur wenige Erzherzöge und Adlige liesen Palais errichten, zumeist hatten sie bereits ererbte Stadtresidenzen in der Inneren Stadt oder aber wie zum Beispiel die Familien Schwarzenberg und Hohenlohe-Schillingsfürst großzügige Palais mit weitläufigen Parks, die attraktiver und repräsentativer waren als ein Haus an der Ringstrasse hat sein können. Zu dem verfügten nur wenige Familien über ausreichend Kapital, da ihr Vermögen an weitreichenden Länderreien in den Kronländer gebunden war.
Die Ringstrasse entwickelte sich zur Spielwiese der Zweiten Gesellschaft Wiens, des Geldadels. Zwar konnten durchaus Titel wie Ritter, Freiherr oder Baron vorgewiesen werden, die zur Hoffähigkeit notwendigen 16 hochadligen Vorfahren fehlten jedoch um in den Kreis der Ersten Gesellschaft aufgenommen zu werden. Man baute als Legetimation und um die Standesdünkel zu vertuschen. Wenn man schon nicht bei Hofe eingeladen wurde, so war man doch zumindest Teil der Ringstrassengesellschaft und selbst der Kaiser konnte nicht umhin die neue Gesellschaftsordnung wahrzunehmen.
Eine Welt im Kleinen stellte so mancher Wohnpalast dar, waren Mietskasernen mit Schaufassaden. Unter einem Dach konnten sich elegante Ladenlokale, reiche Bankiers, hoher Adel, Beamte, Künstler und Arbeiter zusammenfinden, ohne das ihre Welten sich überschnitten. Verschiedene Stiegenhäuser sorgten für Trennung und trotzdem wirkte allein die Adresse 'Ringstrasse' erhebend, selbst wenn man nur ein Mansardenzimmer sein Eigen nennen konnte.
1865 wurde im Beisein des Kaiserpaares die Ringstrasse feierlich
eröffnet, auch wenn bis dahin nur wenig wirklich bebaut war und
weitestgehend noch brachliegende Baulöcher klafften. Die Pracht war
schon zu erahnen in den Folgejahren wuchs die Stadt auch in die Höhe. Nun feiert die Wiener Ringstrasse ihren 150. Geburtstag und neben zahlreichen Ausstellung in Wien widmet Hatje Cantz dem Prachtboulevard einen würdigen Bildband.
Die Wiener Ringstraße
2014. 264 Seiten, 280 Abb.
30,30 x 32,60 cm
2014. 264 Seiten, 280 Abb.
30,30 x 32,60 cm
ISBN 978-3-7757-3772-2
Preis: 58€
Vielen Dank an Hatje Cantz für das Rezensionsexemplar.